"In
der Meditation seht ihr die Welt, außerhalb der Meditation denkt ihr
über die Welt wie ein Blinder, der nie die Sonne gesehen hat."
[6]
Die
Betonung liegt hier auf "seht". Wenn sich ein Mensch im
Zustand der Meditation befindet, beobachtet er tatsächlich das reale
Weltbild. Er sieht kein imaginäres Weltbild, das anhand
irgendwelcher Vorstellungen, Ideen oder "gefällt mir - gefällt
mir nicht"-Relation aufgebaut wurde. Er sieht das Bild, das es
gibt. Er sieht es nicht vom Standpunkt der öffentlichen Moral, der
Vorstellungen von irgendjemandem, historischer Gegebenheiten. Er
sieht das, was in der Realität geschieht. Deswegen sieht er
tatsächlich die Welt.
Wenn
man sich nicht im Zustand der Meditation befindet, lebt man wie ein
Schlafwandler. Das ist der Zustand eines normalen Menschen. Man
bewegt sich in einem gewohnten Rhythmus, hat eine gewohnte
Lebensweise... Das heißt, dass man die ganze Zeit eine kleine
"Schraube" in einer Maschine darstellt. Selbstverständlich
besitzt man hier eine gewisse Freiheit: man kann beispielsweise
wählen, in welcher Maschine oder in welchem Teil der Maschine man
als "Schraube" dienen will. Nichtsdestotrotz befindet man
sich ständig in Bewegung, die einen dauernd irgendwohin treibt. Und
die Welt wird als eine mechanistische Bewegung wahrgenommen, in der
man eine "Schraube" ist. Ein solcher Mensch ist nicht in
der Lage, die Situation als Ganzes zu betrachten. Er wird nie eine
absolut richtige Entscheidung treffen können. Er wird eine
Entscheidung treffen können, die vollständig bestimmte Aspekte
berücksichtigt, jedoch wird dies nicht ein vollständiges Bild des
Geschehens sein. Und nur jener Mensch, der sich in einem spirituellen
Zustand befindet, ist in der Lage, das Weltbild zu erkennen, das
tatsächlich existiert.
Warum?
Warum
er die spirituelle Seite der Welt sehen kann? Das ist wiederum eine
trügerische Vorstellung - über die Aufteilung der Welt ins
Materielle und Spirituelle. Ein solcher Mensch sieht nichts
Überspirituelles, er sieht dasselbe, wie auch alle anderen; er sieht
nichts Neues. Er sieht dieselben Bäume, er atmet dieselbe Luft ein,
er läuft auf derselben Erde, über ihm scheint dieselbe Sonne. Es
geschieht nichts Besonderes.
Heißt
es dann, dass sich nichts ändert?
Seine
Weltanschauung ändert sich, seine Wahrnehmung der Welt ändert sich.
Denn normale Menschen merken nicht, was um sie herum geschieht.
Menschen eilen zur Arbeit und essen dabei ein Brötchen. Sie haben
nicht mal Zeit, um zu sehen, dass das Wetter schön ist, oder sie
haben dafür nur eine Sekunde. Ein Mensch jedoch, welcher sich
dauernd im Zustand stetiger Achtsamkeit, stetiger Aufmerksamkeit
befindet - ein solcher Mensch ist immer in der Lage jenes zu sehen,
was tatsächlich geschieht. Viele Menschen können mit jemanden
zwanzig Jahre lang aus Gewohnheit kommunizieren, ohne zu merken, dass
sie diese Freunde gar nicht brauchen. Nur aus Gewohnheit oder um den
guten Ton zu wahren, setzten sie die Kommunikation mit ihnen fort.
Sie glauben, dass deren Freunde unverändert geblieben sind oder dass
man des guten Tons wegen mit ihnen kommunizieren, gut über sie
denken muss... Deswegen sehen sie diese Menschen nicht tatsächlich.
Ein
Mensch, der sich im Zustand der Aufmerksamkeit befindet, ist in der
Lage, Menschen so zu sehen, wie sie sind. Und er ist in der Lage,
jede Sekunde ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wenn er dies
wünscht. Das ist der Mensch, welcher sich im Zustand stetiger
Achtsamkeit befindet. Und das ist kein Wunder: der Mensch sieht
einfach das, was tatsächlich ist. Er sieht das aus seinem inneren
spirituellen Bestreben ausgehend, weil er stets seinen eigenen
spirituellen Ursprung beobachtet - das, was in ihm selbst passiert.
Und natürlich kann ein solcher Mensch diesen spirituellen Ursprung
in allen Lebewesen erkennen. Nur weil er selbst solche Erfahrung
besitzt, hat er die Fähigkeit, diesen auch in den anderen zu
erkennen. Und das Wichtigste dabei ist, dass ein solcher Mensch sehen
kann, was in ihnen die Sonne verdeckt, die im Inneren scheint. Er ist
in der Lage, den Menschen zu helfen. Er kann ihnen helfen, das zu
beseitigen, was sie stört: Hemmnisse, welche ihre eigene innere
Sonne am Scheinen hindern. Eben deswegen sind Ratschläge und
Empfehlungen eines solchen Menschen am kostbarsten. Nur ein solcher
Mensch kann andere lehren, denn er hat einen Vergleichsmaßstab,
einen Musterbeispiel - seinen eigenen inneren Zustand, den er ständig
beobachtet.
Aber
Kinder und Dichter besitzen auch einen solch begeisterten Zustand.
Sie betrachten Bäume, die Sonne... Sie haben eine offene Seele, sie
nehmen all das in sich auf. Warum besitzen Sie denn Die Weisheit
nicht?
Sie
besitzen kein vollständiges und vollkommenes Wissen, weil sie bloß
über einen Aspekt verfügen. Ja, sie haben die Offenheit, deshalb
sind sie in der Lage, die Welt wahrzunehmen, aber sie haben keine
Kraft, welche diese Offenheit beschützen würde. Und jedes Mal, wenn
diese Menschen der "erwachsenen" Welt begegnen, geht der
Zustand sofort verloren. Das heißt, bei denen ist nur ein Teil
vorhanden, aber nicht das Ganze. Solche Menschen sind nicht in der
Lage, die Situation zu kontrollieren. In der Tat, bis Kinder oder
Dichter, diese Romantiker mit Brillen, nicht von irgendjemanden
belästigt werden, leben sie scheinbar ganz offen: die Welt ist froh
und alles ist schön. Wenn jedoch ein Mensch "aus der anderen
Welt" zu ihnen kommt, bricht alles in sich zusammen. Und dies
stellt keine vollständige Kontrolle-der-Situation dar, weil sie kein
vollständiges Wissen besitzen. Sie sind fähig, die Welt
wahrzunehmen, aber sie fühlen wiederum nicht die ganze Bewegung
dieser Welt, sie sehen nicht, wie das alles geschieht, und verstehen
die Hintergründe des Geschehens nicht. Bei denen liegt nur eins der
spirituellen Zustände vor, dies ist ein Stadium des Weges, aber sie
haben kein vollständiges und vollkommenes Wissen - das, was man als
Die Weisheit bezeichnet. Und das folgt übrigens schon allein aus der
Definition Der Weisheit - des Zustands, in den man eintritt und nie
wieder verlässt. Alles andere ist noch keine Weisheit. Deswegen
müssen Kinder und Dichter das Stadium des Erwachsenwerdens
durchlaufen, um Kraft zu sammeln, und danach wieder zur Offenheit
zurückkehren. Und wenn sich diese beiden Teile vereinigen, dann wird
das das vollständige und vollkommene Wissen sein. Natürlich ist es
am besten Offenheit zu besitzen, um die Welt so wahrzunehmen, wie sie
ist. Aber man braucht auch Die Kraft, man muss Dieses Wissen haben,
um keine Einmischung ins eigene Leben zuzulassen und um von niemandem
in irgendeiner Weise abzuhängen.
[6]
Sergey Bugaev "Schwarzes und weißes Tantra", 1997, S. 65.
Copyright © 2013 Sergey Bugaev und Vladimir Kuzin. Alle Rechte vorbehalten.
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